Connecting the dots: Desinteresse am Bundestag

Am heutigen Montag macht eine Studie der Bertelsmannstiftung in der deutschen Presse die Runde welche bescheinigt, dass die Deutschen sich nicht für den Bundestag interessieren. 3/4 der Deutschen haben in den letzten Monaten keine Debatte mitverfolgt. So skandalös das zunächst erscheinen mag, es ist wenig überraschend, dass in Zeiten sinkender Wahlbeteiligung auch das Interesse an denen, die da gewählt werden, rückläufig ist. Viele Kommentatoren sehen die Ursachen in der rückläufigen Medienberichterstattung, in welcher die deutschen Dax-Konzerne insgesamt häufiger die Tagesschau bestimmen als der Bundestag. Diese Diagnose kommt in Zeiten der totalen Ökonomisierung der Lebenswelt auch nur bedingt überraschend. Wenn man sich die Presseberichterstattung der vergangenen Woche ansieht, findet man noch weitere Hinweise, die dieses Phänomen erklären.

  • Der normative Appell, die Bürger mögen sich doch bitte Plenardebatten ansehen, ist ein moralisch hohes Ziel. Selbst für Politikwissenschaftler, die dafür beruflich ihre Zeit investieren, ist dies nur schwer zu erreichen (Ich verweise auf meine Reihe „Best of Bundestag„). Eine ganze Plenardebatte zu lesen, zu verstehen und intellektuell zu verarbeiten ist kognitiv anspruchsvoll, aber nicht wegen der intellektuellen Höchstleistungen im politischen Diskurs, sondern wegen ihrem Stil…
  • Wer sich ernsthaft für Plenardebatten interessiert, und auch noch in der Lage ist davon Übertragungen zu finden, der wird erschlagen von leeren Worthülsen und Halbwahrheiten die vom Zuhörer ein enormes Durchhaltevermögen erfordern. So interessant dies für Diskursanalytiker ist, welche sich während ihrer Arbeitszeit damit beschäftigen, so zermürbend ist dies für die werktätige Bevölkerung die Abends erschöpft aufs Sofa fällt. Ein Artikel der Zeit nennt dieses Phänomen „Bullshit-Sprache“.

„Bullshit ist Gerede, bei dem der Sprecher sich nicht darum schert, ob es stimmt. Im Unterschied zum Lügner versuchen Bullshitter nicht, anderen gezielt eine Unwahrheit einzureden. Wahr oder unwahr, das kümmert sie wenig. Sie wollen Eindruck schinden.  Bullshit kann noch mehr Schaden anrichten als Lügen, schon weil es soviel davon gibt. Der Lügner respektiert die Wahrheit immerhin, indem er sie maskiert. Der Bullshitter erstickt sie einfach mit seinem Gerede. Deshalb ist politischer Bullshit ein Problem.“

Beim Lesen (oder Hören) dieser Bullshitsprache wird viel beim Empfänger erzeugt, von schierer Langeweile, über fassungsloses Entsetzen, bis hin zu blanker Wut über die Dreistigkeit einiger Abgeordneter. Was dabei aber nicht erzeugt wird ist die Vorstellung, dass der Bundestag das Herz der Demokratie ist, eine Institution voller Würde welche die Zukunft des Landes sorgfältig, rational und kompetent gestaltet. Roger Willemsen kommt in seinem vortrefflichem Buch „Das Hohe Haus“ (Weihnachtsgeschenkempfehlung!) zu ähnlichen Schlüssen, die allesamt ein finsteres Bild der politischen Kultur zeichnen. Die Diagnose der allmählich verkümmernden politischen Kultur in Deutschland wurde auch kürzlich vom US- Journalisten George Packer gestellt. Packer beobachtet, dass deutsche politische Reden dem Vorlesen von Regulationsrichtlinien für den Bahnverkehr entsprächen.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Der Bundestag ist kein Debattenparlament, wie das englische Unterhaus. Gesetzesentwürfe werden nicht im Plenum bearbeitet,  sondern nur vorgestellt. Für die Arbeit sind Ausschüsse zuständig. Dafür braucht es keine rhetorische Finesse, sondern nur die Soft-Skills eines Fünftklässlers der einen von anderen verfassten Wikipediartikel als Vortrag seiner Klasse vorstellt. Das Publikum reagiert entsprechend: es wird mit Smartphones gespielt, Zeitung gelesen oder mit dem Sitznachbar getuschelt. Immerhin wird in Schulklassen meistens nicht dazwischen gebrüllt. Wenn schon die Parlamentarier selbst ihren Kollegen nicht zuhören und die Kanzlerin lieber mit dem Vizekanzler tuschelt, wenn die Opposition Defizite aufzeigt, wer darf dann aufrichtig erwarten, dass die Bevölkerung zuhört?

Das zweite Große Problem ist die Übermacht der Großen Koalition selbst, die jeden politischen Diskurs durch schiere Masse erdrückt. Beobachter wiesen schon früh darauf hin, dass die Opposition in den Redezeiten beschnitten werden könnte. In der Tat laufen die meisten Debatten nach dem Schema ab, dass sich die Regierungsparteien zunächst selbst beweihräuchern und der Opposition oft nur wenig Zeit für Kritik bleibt. Dadurch bleibt weniger Raum zur Schaffung von Öffentlichkeit, eine wichtige Funktion der Opposition. Der Effekt verstärkt sich durch die Aufmerksamkeitsökonomie der Presse, die verstärkt über das berichtet, was „clicks“ generiert.

Das dritte Große Problem wird in der Literatur oft mit „accountability“ bezeichnet, Verantwortung bzw. Rechenschaftspflicht. Die Redner können nicht zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie Bullshit erzählen. Fehlende Rechenschaftspflicht ist eine der Primärursachen für zahlreiche Pathologien, von Bullshit, über krude Gesetze bis hin zur Korruption. Fehlende Rechenschaftspflicht ist ein Problem der Demokratie, weil ohne entsprechende „checks“ keine „balances“ erfüllt werden können. Wenn wahrgenommene Pathologien, z.B. politische Lügen, keine Konsequenzen in Form von „balances“ erfahren, dann schwächt dies das Vertrauen in die Institutionen. Die Briten haben dazu das Werkzeug der „Prime Minister hearings“ als Korrektiv erfunden, in welchen sich die Regierung öffentlich und frei der Diskussion mit den Abgeordneten stellen muss.  Die Regierung muss sich darin tatsächlich auf Positionen festlegen, auf die sich später berufen wird. Anstatt, wie in Deutschland, die Eckpunkte vom Blatt abzulesen, gibt es eine freie Frage-Antwort-Abfolge die dazu führt, dass politisch wieder um etwas gestritten wird. Die Studie der Bertelsmannstiftung kommt zu dem Schluss, dass dieses Mittel das Interesse der Bevölkerung am politischen Prozess verstärkt. Es hat etwas bereinigendes und sorgt gleichzeitig für demokratische Kontrolle, da sich niemand hinter vorgeschriebenen Reden und austarierten Bullshit-Phrasen verstecken kann. Die Regierung hat aber kein Interesse daran, zur Rechenschaft gezogen zu werden, etwa in öffentlichen „Anhörungen“. Ein entsprechende Oppositionsinitiative zur Reform der Generaldebatte wurde erst kürzlich durch die Regierungskoalition dramatisch abgeschwächt. Der Gesetzentwurf der Regierung will zwar formell die Parlamentsbefragung reformieren, allerdings solle die Bundeskanzlerin davon verschont bleiben und freie Fragen und Antworten seien auch nicht vorgesehen.

Bei diesen Entwicklungen darf man sich nicht wundern, dass die Wahlbeteiligung sinkt und die Bevölkerung lieber „House of Cards“ schaut, als Bundestagsdebatten verfolgt.

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