Neulandrepublik Deutschland Teil 1

Im Sommer macht unsere Kanzlerin Frau Merkel auf sich aufmerksam, indem sie (nach 2 Wochen des Schweigens) den damals aufkommenden Überwachungsskandal mit folgenden Worten herunterspielte: „Das Internet ist für uns alle Neuland“. Dieses Statement begründete nicht nur ein eigenes Twitter Hashtag, sondern steht, zumindest für mich, seitdem exemplarisch für das Internetverständnis der Deutschen. Ein Großteil der Deutschen hat dieses Medium nach wie vor nicht verstanden, weshalb Christian Stöcker in seinem Buch „Nerd Attack“ argumentiert, dass der Spiegel extra einen „Internetrepräsentanten“ in Form von Blogger Sascha Lobo angeheuert hat, um den Deutschen mal das Internet zu erklären (der einen guten Job macht, gemessen an den Umständen).

Die Wortschöpfung Neuland  ist Symptom eines Phänomens, dass es näher zu untersuchen gilt. Es ist eine Mischung aus Naivität, Ignoranz und Staunen gegenüber der digitalen Revolution. Die Neulandmetapher hat etwas verharmlosendes, fast verniedlichendes und schlägt einen „entschuldigenden“ Tonfall an: „es ist so neu, wir können ja noch gar nicht wissen was wir tun.“ Interessanterweise wurde diese Legitimationsfigur im gesamten NSA-Diskurs nur einmal genutzt, vermutlich weil Sie die Deutschen als unwissend und verwundbar darstellt (was so gar nicht in das eigene Selbstbild passt). In meinen Augen passt diese Metapher und beweist die exzellente Diagnosefähigkeit der Kanzlerin, wenn es um das Einschätzen der eigenen Bevölkerung geht (ein wichtiger Soft-Skill für Regierungschefs, falls sich der Wind mal wieder dreht). Deutsche Biergemütlichkeit vermischt sich mit einem Industrieverständnis des Wirtschaftswunders und produziert irreführende Metaphern wie „Datenautobahnen“, weshalb die Aufrüstung der (im europäischen Durchschnitt weit zurückliegenden digitalen Infrastruktur) auch an das Verkehrsministerium angegliedert wird. Damit wird Passivität und Stillhalten ausgedrückt. Volker Pispers bietet ebenfalls eine sehr treffende Analyse des Problems. Dazu kommt eine gewisse Genügsamkeit ala „das Internet ist nur so ein Hype und gar nicht so wichtig wie z.B. Schwerindustrie“ welcher die grundsätzliche Erkenntnis verhindert, dass das Internet DER Wirtschaftszweig, nicht mehr nur der Zukunft, sondern der Gegenwart ist. Die Internetökonomie ist mittlerweile wichtiger als traditionelle Industrien, die in Deutschland dominant sind (Maschinen, Schwermetall, Autos). Deutschland ist in diesem neuen Wirtschaftszweig so gut wie nicht vertreten (außer SAP) und der Großteil der digitalen Güter wird in den USA produziert: Google, Facebook, Apple, Microsoft, Amazon, Ebay und und und.  Das von uns belächelte China hat den Trend erkannt und investiert massiv sowohl in Ausbildung von Fachkräften und den Ankauf von Know-How. Baidu kennen heute selbst Europäer und Lenovo sowieso (das waren die, welche die Thinkpads und kürzlich den Rest von Motorola aufgekauft haben).  Lange Rede, kurzer Sinn: wenn das Internet und Hochtechnologie der nächste Entwicklungsschritt sind (was nicht mehr bezweifelt wird), dann liegt Deutschland zurück. Damals, als die industrielle Revolution einen unfassbaren Entwicklungsschub in den westlichen Ländern auslöste, blieben einige Länder zurück, die an der alten, etablierten, traditionellen Form der Agrarwirtschaft hingen. In der digitalen Revolution ist Deutschland ein solcher, rückwärtsgewandter Agrarstaat. Deswegen passt der Begriff „Neulandrepublik“ so gut, da er, in Anlehnung an Bananenrepublik, diese Rückwärtsgewandtheit deutlich macht. Dennoch gilt es diesen Begriff zu fassen.

Beim täglichen Nachrichtenlesen fallen den „digital natives“ immer wieder Phänomene auf, die in das Konzept der Neulandrepublik Deutschland passen, weshalb ich es mir zur Aufgabe gemacht habe, die Symptome der Neulandrepublik systematisch in diesem Blog zu sammeln. Ein paar kurze Highlights aus der jüngeren Vergangenheit:

  1. Den Deutschen ist Datenschutz egal und nur wenige ändern nach den NSA Aufdeckungen ihr Verhalten im Internet. Die Intelligenzelite erkennt das Problem weitaus besser. Die Bereitschaft zum Datenschutz ist also von der Ausbildung abhängig.
  2. Den Deutschen sind ihre erkämpften Grundrechte egal und ihre Souveränität, wie der Historiker  Foschepoth seit Sommer immer wieder betont. Seine Analyse der Geschichte der Überwachung in Deutschland zeigt eindrucksvoll die „rechtlichen“ Grundlagen der Überwachung, und dass insbesondere für die USA und die five-eyes zahlreiche Ausnahmeregelungen gelten, die den Rechtsstaat aushöhlen und die mit der Wiedervereinigung hätten gestoppt werden müssen. Die Ursünde war für ihn die erste Großekoalition, welche damals das Grundgesetz zugunsten von mehr Überwachung änderte. Die dritte deutsche Groko bleibt tatenlos und kündigt im Sommer lediglich ein Dummy-Abkommen auf, welches keinerlei praktische Relevanz mehr hatte.
  3. Die Deutschen wählen eine Partei (mit überraschend vielen Stimmen), die als einzige Partei im Bundestag für umfassende staatliche Überwachung ist (Vorratsdatenspeicherung, Bundestrojaner etc.) und kein Interesse daran hat, den NSA Skandal aufzuklären, was man gegenwärtig am Hickhack um den Untersuchungsausschuss sieht. Die Presse diagnostizierte schon während des Wahlkampfes, dass den Deutschen die NSA egal ist und der Skandal im Wahlkampf keine Rolle spielte.
  4. Deutsche Firmen unterschätzen die Bedeutung von Wirtschaftsspionage und wollen das Problem (genau wie ihre Regierung), lieber aussitzen.

To be continued…

PS: Die Alternative Lesart der Neulandmetapher ist ein Neologismus des alten „das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein“ Slogans und dient als Legitimierung staatlicher Intervention. Eine gute Interpretation findet sich hier.

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